Die Stellung des Militärs in der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs

Kaiser Wilhelm II. in der Uniform des Regiments der Gardes du Corps. Offizielle Fotokarte vor 1914.

Das Militär hatte im Kaiserreich eine herausragende gesellschaftliche Stellung inne, dessen Angelegenheiten sich weitgehend der politischen Kontrolle entzogen. Der deutsche Kaiser war oberster Kriegsherr des deutschen Heeres und Wilhelm II. (1859-1941) hatte diese Rolle im besonderen Maße verinnerlicht. Der durchaus gesellschaftskritische Schriftsteller Theodor Fontane hat sich einmal (1897) über diesen Monarchen hellsichtig wie folgt geäußert: „Er hat ein Million Soldaten und will auch hundert Panzerschiffe haben – er träumt (und ich will ihm diesen Traum hoch anrechnen) von einer Demütigung Englands. Deutschland soll obenan sein, in all und jedem. Das alles – ob es klug und ausführbar ist, lass ich dahingestellt sein – berührt mich sympathisch und ich wollte ihm auf seinem Turmseilwege willig folgen, wenn ich sähe, dass er … die richtige Balancierstange in Händen hätte. Das hat er aber nicht. Er will, wenn nicht das Unmögliche, so doch Höchstgefährliche, mit falscher Ausrüstung, mit unzureichenden Mitteln. Er glaubt das Neue mit ganz Altem besorgen zu können, er will Modernes aufrichten mit Rumpelkammerwaffen. Er sorgt für neuen Most und weil er den alten Schläuchen nicht mehr trat, umwickelt er eben diese alten Schläuche mit immer dickerem Bindfaden und denkt: nun wird es halten. Es wird aber nicht halten … Was der Kaiser mutmaßlich vorhat, ist mit „Waffen“ überhaupt nicht zu leisten; alle militärischen Anstrengungen kommen mir vor, als ob man anno 1400 alle Kraft darauf gerichtet hätte, die Ritterrüstung kugelsicher zu machen – statt dessen kam man aber schließlich auf den einzig richtigen Ausweg, die Rüstung ganz fortzuwerfen“1.

Vorstellung von Offizieren bei Kaiser Wilhelm II. Dieser wie oben in der Uniform des Regiments der Gardes du Corps. Originale Fotokarte vor 1914.

Kaiser Wilhelm II. betrachtete das Heer als ureigenstes Instrument des Monarchen und lehnte jede Einmischung des Reichskanzlers und des Reichstages in seinen militärischen Machtbereich vehement ab. Lediglich das Budgetrecht des Reichstages bedeutete hier einen Einschnitt und führte regelmäßig zu innenpolitischen Turbulenzen2. Unabhängig hiervon war das Militär bei der Bevölkerung des deutschen Kaiserreiches überaus populär. Spätestens seit den siegreichen Einigungskriegen und der Schaffung des deutschen Kaiserreiches im Jahre 1871 identifizierte sich auch das deutsche Bürgertum mit der bewaffneten Macht im Staat. Dies war natürlich auch in dem enormen wirtschaftlichen Aufschwung des wilhelminischen Deutschlands begründet.  

Der Adel besetzte im kaiserlichen Deutschland als gesellschaftliche Elite immer noch wichtige Funktionen, vornehmlich beim MIlitär. Das Offizierskorps wurde in Preußen als " das einzige zuverlässige Bollwerk gegen sozial Umwälzungen" (Craig) betrachtet. Voraussetzung hierfür war aus Sicht des preußischen Königs und des Militärkabinets eine weitgehende Besetzung der Offiziersstellen mit Adligen. Eine liberale Gesinnung wurde kritisch betrachtet und behinderte nicht nur die Aufnahme in das Offizierskorps bzw. die dienstliche Karriere von Offizieren, die bereits in der Armee dienten. Um die Leistungsfähigkeit und politische Verlässlichkeit der Armee zu erhöhen, wurde auf die Gesinnung und das Verhalten - auch der adligen - Offiziere genau geachtet.

Der Chef des Militärkabinetts, Generalfeldmarschafl Edwin Karl Rochus Freiherr von Manteuffel (* 24.02.1809 in Dresden; † 17.06.1885 in Karlsbad), verfolgte diesbezüglich eine besonders rigide Haltung und äußerte sich später zu seinem Wirken: "Das war meine größte politische Tat; ohne diese Reinigung wären die Siege von 1864, 1866 und 1870 nicht erfolgt; das Offizierskorps war Anfang der fünfziger Jahre viel schlechter als 1806".

Diese Problematik und die Hintergründe beschreibt Gordon A. Craig in seinem Werk: Die preußisch-deutsche Armee 1640 - 1945. Staat im Staate ()Düsseldorf 1980, S. 257 ff.) wie folgt: "War die Art der Zusammensetzung des Offizierskorps während der Manteuffelschen Ära schon für Offiziere mit fortschrittlichen politischen Ideen eine unerfreuliche Sache, so traf dies noch mehr auf Offiziere bürgerlicher Herkunft zu. Für Manteuffel waren solch Offiziere nicht einwandfrei, und zwar nicht allein, weil sie möglicherweise von liberalen Absichten infiziert waren, sondern weil er glaubte, es fehle ihrem sozialen Stand an militärischem Geist. Schon im März 1860 opponierte die Militärkommission des preußischen Abgeordnetenhauses gegen die systematische Entfernung von bürgerlichen Offizieren aus der Armee, und solche Klagen wiederholten sich Jahr um Jahr. Die Kammer hatte die begreifliche Sorge, dass ein in seiner Gesinnung überwiegend antibürgerliches Offizierskorps eine beständige Gefahr für die konstitutionellen Freiheiten sein würde. Dieses Bedenken wurde noch größer, als 1865 ein Armeevertreter einräumte, dass von 8169 Offizieren 4172 Adlige waren. Solche Zahlen erhalten noch mehr Gewicht, wenn man sich vor Augen lässt, dass die höchsten Chargen in der Armee zu mehr als 80 Prozent mit Adligen besetzt waren.

Manteuffels Vorurteil gegen bürgerliche Offiziere sass so tief, dass er den in der Reformzeit niedergelegten Grundsatz, die Zulassung zum Offizierskorps von einem entsprechenden Bildungsnachweis abhängig zu machen, einfach ignorierte. Er versuchte, seine Umgehung der bestehenden Bestimmung mit der Behauptung zu rechtfertigen, es sei unklug, von allen Offizieren Gelehrsamkeit zu verlangen. Für die meisten sei es wichtig, dass sie sich an der Front bewährten, und dafür wäre ein hohes Maß an Schulbildung nicht erforderlich. In Wirklichkeit wandte er sich gegen erhöhte Bildungsansprüche, weil sie in seinen Augen eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt und folglich für die politische Zuverlässigkeit des Offizierskorps darstellten. Im Oktober 1861 kam eine königliche Verfügung heraus, nach der in Zukunft Offiziersaspiranten das Reifezeugnis des Gymnasiums oder der Realschule vorzuweisen hatten und in den Fächern der Oberklassen geprüft werden würden. Diese Verfügung rief einen Entrüstungssturm unter den älteren Offizieren hervor. Sie bezeichne, protestierten sie heftig, den Anfang der Verbürgerlichung der Armee. Eine Gruppe von Offizieren richtete, ohne Namensnennung, eine Eingabe an Manteuffel und fragte rundheraus: "(Werden nun nicht) statt der Dönhoffs, Dohnas usw. ... die Söhne reich gewordener Bankiers die Stellen der Garde du Corps-Offiziere einnehmen? ... Würde das so veränderte Offizierskorps dieselbe Haltung zeigen wie das von 1848? ... Wäre es nicht gefährlich, den Adel zu sehr zu reizen?"

Manteuffel glaubte allerdings, dass dies gefährlich sein würde. Ohne sich vorher mit dem Kriegsminister zu beraten, führte er einen entschlossenen Kampf gegen die Verfügung vom Oktober. Er überredete den König zunächst einmal, den Regimentskommandeuren zu Gemüte zu führen, dass bei der der Auswahl von Offiziersanwärtern charakterliche Eigenschaften ebenso ins Gewicht fallen müssten wie Bildung. Und später bewog er den Monarchen, die Durchführung der Order um vier Jahre auszusetzen. Aber auch nach Ablauf der vier Jahre wurde die Verfügung niemals in dem Geiste angewandt, in dem sie verfasst worden war".

Kaiser Wilhelm II. mit den Offzierkorps des 1. Garde-Regiment zu Fuß und Regiments der Gardes du Corps. Fotograf: Franz Tellgmann/ Mühlhausen i. Thüringen. Um 1910.

Der aus dem amerikanischen Großbürgertum stammende und mit Bismarck befreundete John Lothrop Motley, ab 1841 Gesandtschaftssekretär in Petersburg, äußerte sich bereits am 04.11.1833 kritisch über die Rolle des Adels: " Diejenigen, welche so glücklich sind, die drei magischen Buchstaben VON vor ihrem Namen zu haben, gehören zum Adel und sind demzufolge höchst aristokratisch. Ohne diese drei mögen die Anderen sämtliche Zeichen des Alphabets in jeder möglichen Zusammensetzung haben, sie bleiben dennoch Plebejer"5.  Ein zeitgenössischer deutscher Beobachter schrieb einige Jahre später: "Der Gardelieutenant wird geboren als echtes Vollblut von echtem Vollblut und fühlt sich nun von vornherein als ein Wesen höherer Art, den Bauern, den Tagelöhnern, dem bürgerlichen Volk gegenüber. Der junge Von braucht eigentlich nichts zu werden, er kann die Erlernung eines Geschäfts ... dem Bürgertum überlassen, denn ein Gardelieutenant, wie sein soll, muß reich sein .... Und wenn das Bärtchen nun flaumt, wenn die Epauletten zum ersten Mal auf seinen Schultern prangen, wenn der Federbusch zum ersten Male auf seinem Haupte winkt, wenn die Soldaten in allen Ecken und Winkeln präsentieren, wie sollte er da nicht fühlen, das er berufen ist, ein Wesen von höherer Art in dieser sublunarischen Welt darzustellen? Wie sollte er da nicht eben alles ignorieren und verachten, was nicht von Adel, was nicht auch Gardelieutenant oder sonst mit einer Charge in der militärischen Hierarchie bekleidet ist?  Es ist nur zu natürlich. Ein Gardelieutenant glaubt schon nicht mehr mit einem Lieutenant von der Linie umgehen zu dürfen. Er meint, dass dieser unter ihm stehe"6.

Offiziere der Garde-Infanterie. Originale Fotokarte um 1910. Hier schon mit geschwärzten Degenscheiden..

Nach dem Ende der Befreiungskriege waren von 7505 Offizieren der preußischen Armee insgesamt 4138 Adlige (= 55 %). Im Jahre 1847 waren von 9434 Offizieren 7264 adlig (= 77 %). Aber der zahlenmäßige Anteil des Adels sank angesichts der wachsenden Zahl der Offiziere im Zuge der Heeresvermehrungen zwangsläufig. Vor der Reorganisation und dem Ausbau des Heeres vor 1860 waren noch 65 % des Offizierkorps adlig, 1895 waren es noch 44,1 %, 1898 waren es noch 40 %, 1911 waren es noch 33 % und im Jahre 1913 war der Anteil bürgerlicher Offiziere bereits auf 70 % gestiegen3.  In diesem Jahr waren von den Rängen von den Obersten aufwärts 52 % adlig und 48 % bürgerlich. Der Adel war aber vor allem bei der Kavallerie noch immer stark vertreten. In dieser vornehmen Waffengattung waren im Jahre 1913 87 % der Stabsoffiziere adlig, während es bei den Pionieren und Verkehrstruppen im gleichen Zeitpunkt nur 6 % waren. Bemerkenswert ist, dass das gesamte Offizierkorps der Marine nur einen adligen Anteil von 13 % hatte4.

Offiziere aus dem Infanterie-Regiment Herwarth von Bittenfeld (1. Westfälisches) Nr. 13 anlässlich einer Felddienstübung. Originale Fotokarte.

Unter Wilhelm II. kapselte sich der Adel  in einigen Garde- und Provinzialregimentern ab, es gab aber Versuche von offizieller Seite, dieser Entwicklung entgegen zu treten. In Sachsen war im Jahre 1908 das Verhältnis zwischen adligen und bürgerlichen Offizieren wie 571 zu 3284, in der bayerischen Armee war das Verhältnis im Jahre 1893 wie 1122 zu 7390. 

Preußische Offiziere der Infanterie (Infanterie-Regiment von Manstein - Schleswigsches) Nr. 84 - Schleswig/ Hadersleben). Foto vor 1914. Im Hintergrund links stehend: Freiherr von Nettelbladt).

Zwar dominierte der Adel in den maßgeblichen Funktionen nach wie vor das Offizierkorps7,  dass Bürgertum konnte jedoch seine Minderwertigkeitskomplexe über den Eintritt in das Reserveoffizierkorps überwinden. Hierfür waren die sogenannten Einjährig-Freiwilligen das Eintrittstor.

Hierzu äußert sich Herbert Rosinski in seiner Gesamtdarstellung: "Die Deutsche Armee. Vom Triumph zur Niederlage" Düsseldorf und Wien 1977, S. 106 ff.) wie folgt: "Obgleich es sich hier ursprünglich um ein rein militärisches Sonderreglement handelte, wurde die Institution der "Einjährigen" mehr und mehr zu einer grundsätzlichen sozialen Trennlinie zwischen den "Gebildeten" und den "Ungebildeten". Auch in den Reihen der Einjährigen gab es zweifellos Unterschiede. Der Dienst als Einjähriger eröffnete nur die Möglichkeit, jedoch nicht Gewissheit einer Ernennung zum Offizier. Solange die Einjährigen nur in die Landwehr übernommen wurden, scheinen die sozialen Unterschiede nicht sehr ausgeprägt gewesen zu sein, und die Offiziere der Landwehr waren zum großen Teil typische Vertreter des unteren Mittelstandes. Als die Einjährigen als Ergebnis der Reorganisation von 1860 jedoch den Linienregimentern als Reserveoffiziere zugewiesen wurden, nahm man nicht nur ihre Ausbildung, sondern auch ihre Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten viel ernster. Es bestand ein Überangebot an Bewerbern. In den Jahren vor dem Kriege gab es Deutschland jährlich etwa 15000 Einjährige, während die Gesamtzahl der aller Reserveoffiziere 1914 nur wenig mehr als 29000 ausmachte. Dadurch wurde eine strenge Auslese möglich. Alle "unerwünschten Elemente", wie zum Beispiel Juden oder Angehörige des unteren Mittelstandes, wurden von dieser hochgeschätzten Auszeichnung ausgeschlossen und in den Rang des Unteroffiziers verwiesen".

Einjährig-Freiwillige aus dem Kaiser-Alexander Garde-Grenadier-Regiment Nr. 1 (Berlin). Frühe Aufnahme um 1890.
Einjährig-Freiwillige aus dem Infanterie-Regiment von Voigts-Rhetz (3. Hannov-) Nr. 79 (Hildesheim). Originale Fotokarte um 1910.
Einjährig-Freiwilliger im Koller mit parademäßigen Helm aus dem Garde-Kürassier-Regiment (Berlin). Originale KAB.

Fortsetzung: "So entstand durch den Einjährigen eine scharfe Trennlinie und eine Verbreiterung der Kluft zwischen oberen und unteren Rängen. Im Gegensatz zum 18. Jahrhundert verlief das militärische Avancement in beiden Gruppen nunmehr streng getrennt. Die aktiven Offiziere, zunächst provisorisch bei einem Regiment als Anwärter angenommen, begannen ihre Laufbahn mit dem Bestehen einer Eignungsprüfung, dienten dann für kurze Zeit (fünf bis sechs Monate) bei der Infanterie und Kavallerie, neue Monate bei der Artillerie und bei den Pionieren von der Pike auf. Innerhalb dieser Frist wurden sie zum Unteroffizier oder Fähnrich und an die verschiedenen Kriegsschulen versetzt. Danach kam die Beförderung zum Offizier, sofern die Offiziersprüfung erfolgreich bestanden war. Der Einjährige konnte nach sechs Monaten Militärdienst Gefreiter und nach neun Monaten Unteroffizier werden. Nach Ablauf dieses Jahres wurde ihm die Möglichkeit geboten, eine besondere Prüfung abzulegen, womit er zur Wahl als Reserveoffizier anstand. Nach zwei jeweils achtwöchigen Militärübungen innerhalb der folgenden beiden Jahre und einer weiteren Prüfung folgte die endgültige Ernennung zum Reserveoffizier, während die, die aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage waren, diese Bedingungen zu erfüllen, zumindest zum Unteroffizier oder Feldwebel ausgebildet wurden".

Zitat zu den Freiräumen von Einjährig-Freiwilligen aus den Erinnerungen eines späteren Pfarrers. Untertan in Uniform. S. 129 ff.

Preußische Offiziere (auch der Reserve) der Infanterie. Originale Fotokarte.

Auswahlkriterien und Schwierigkeiten für Aspiranten als Reserveoffizier (in Bayern). Zitat aus: Untertan in Uniform. S. 133 ff.

In der Folge imitierte das Bürgertum im besonderen Maße wirkliche und vermeintliche Charakteristika des Adels8. Militärische Verhaltensweisen wurden insgesamt Bestandteil des Alltags, der bunte Rock war in der Stadt und auf dem Lande angesehen. Der beinahe uneingeschränkte Respekt des Bürgers vor dem Militär wird besonders in dem Skandal um den "Hauptmann von Köpenick" (1906) deutlich9.

Preußische Offiziere (auch der Reserve) der Infanterie Originale KAB.

Die weiter oben aufgezeigte Entwicklung des Rückganges des adligen Anteils am Offizierskorps im wachsenden Reichsheer konnte aber nicht ignoriert worden und darauf reagierte Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1890 mit der nachfolgenden Order: "Der gesteigerte Bildungsstand unseres Volkes bietet die Möglichkeit, die Kreise zu erweitern, welche für die Ergänzung des Offizierskorps in Betracht kommen. Nicht der Adel der Geburt allein kann heutzutage wie vordem das Vorrecht für sich in Anspruch nehmen, der Armee ihre Offiziere zu stellen. Aber der Adel der Gesinnung .... soll und muss (dem Offizierskorps) unverändert erhalten bleiben .... (So) erblicke ich die Träger der Zukunft meiner Armee in den Söhnen solcher ehrenwerter bürgerlicher Häuser, in denen die Liebe zu König und Vaterland, ein warmes Herz für den Soldatenstand und christliche Gesittung gepflanzt und anerzogen werden " (zitiert nach Craig, wie vor, S. 260).

Zitat zum Garnisonleben in Süddeutschland um 1886. Aus den Erinnerungen von Wilhelm Groener. Grundzüge der Deutschen Militärgeschichte Band. 2. S. 178.

Der Kaiser und seine Söhne in Uniform. Offizielle Fotokarte aus dem Jahr 1907.

Allgemeiner Hintergrund für die weiter oben skizzierte Entwicklung war aber ein nicht aufzuhaltender eklatanter Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert. Dies berührte auch die Grundlagen des preußischen bzw. deutschen Heeres. Walter Görlitz hat in seiner "Kleinen Geschichte des deutschen Generalstabes"(Berlin 1977, S. 105) beschreibt diesen Wandel wie folgt: "Die industrielle Revolution, die auch in Deutschland die Auflösung der agraischen feudal-patriarchalischen Ordnung, die Bildung einer neuen industriellen Gesellschaft zur Folge hatte, führte zu einer tiefen Erschütterung der ökonomischen wie der Autoritätsbasis des ostelbischen Adels, an dessen Anschauungen sich das Offizierskorps auch in seinen bürgerlichen Teilen orientiert hatte. Die bis dahin festgeschlossenen Lebenskreise des grundbesitzenden Adels, des Bauernstandes, des Handwerker- und Kleinbürgertums lösten sich auf. Eine völlig neue Lebensform, die proletarische Haltung, bildete sich heraus. Die Industriearbeiterschaft, die sich mit Recht ausgebeutet sah, wuchs an Zahl, und damit verwandelte sich in ein immer größerer Teil des Ersatzes der auf der allgemeinen Wehrpflicht basierenden Armee. Ein erheblicher Teil der Nation, deren "Schule" die Armee sein sollte, die nur dem Obersten Kriegsherrn den Fahneneid schwor, wandte sich vom Christentum ab und sucht das Heil im internationalen Sozialismus".

Rupprecht von Bayern (Kronprinz von Bayern) und Luitpold Karl Joseph Wilhelm von Bayern (Prinzregent des Königreiches Bayern) mit bayerischen Offizieren (Feldartillerie) in Paradeuniform. Originale Fotokarte, rückseitig datiert: 12.03.1911.

Trotz der inneren gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen verkörperte das Kaiserhaus und das Militär "Glanz und Gloria" des vereinigten Deutschlands, was in prächtigen Neujahrsparaden, Kaiserparaden und weit verbreiteten Festlichkeiten z. B. anlässlich des Kaisergeburtstages,  der Einweihung von vaterländischen Denkmälern und sonstigen Jubiläen überaus sichtbar wurde.

Parade des 4. Magdeburgischen Infanterie-Regiments Nr. 67 in Metz am 27.01.1913. Originale Fotokarte.
Frühjahrsparade in München im Jahre 1914. Originale Fotokarte. Fotograf: Hans Möller/München.
Festgesellschaft anlässlich der 100-Jahr-Feier des IR 13 im Jahre 1913. Originales Foto vor dem Treppenaufgang zum Offizierskasino.

Es war also ein ambivalentes Szenario, denn im Rahmen seiner aktiven Dienstzeit und als Reservist wurde der Einzelne Teil der "schimmernden Wehr".

"Der Militärdienst bot jungen Männern aus den Unterschichten auch Momente der Geborgenheit, der Anerkennung und materiellen Befriedigung" (Bernd Ulrich/ Jakob Vogel/ Benjamin Ziemann).

Die Uniform hob insoweit das Selbstgefühl nicht nur der oberen sondern auch der unteren und mittleren Bevölkerungsschichten.

Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig. Kaiser Wilhelm II. und König Friedrich August August gegeben sich zum Denkmal. Offizielle Fotokarte aus dem Jahre 1913.

Traditionspflege wurde im Kaiserreich hochgehalten und bewusst als vaterländische Stimulans den militärkritischen Tendenzen der bereits erwähnten immer stärker werdenden Sozialdemokratie entgegen gehalten.

Diese Funktion erfüllte insbesondere das deutsche Kriegsvereinswesen. Vor allem unter der Wirkung der siegreichen Einigungskriege entstanden immer mehr Vereinigungen von ehemaligen Soldaten, die bei Kaiserparaden und sonstigen patriotischen Festlichkeiten Präsenz zeigten.

Allein in Preußen gab es im Jahre 1903 etwa 13000 Vereine mit zusammen 1 140 000 Mitgliedern.

Militär und Zivilpersonen. Mittelgroßes Foto ohne Ort und Datum. Wohl Mitglieder eines patriotischen Vereins bzw. eines Kriegervereins (Veteranen).

Hier wurde die patriotische Überlieferung allgemein und mit Blick auf die jeweiligen Einheiten bewahrt und damit ganz im Sinne der Monarchie gesellschaftlich stabilisierend gewirkt.

Hierzu zitieren die Autoren des Werkes: "Untertan in Uniform. Militär und Militarismus im Kaiserreich 1871 - 1914. Quellen und Dokumente (Frankfurt am Main 1901, S. 86) eine Bilanz im "Soldaten-Freund" aus dem Jahre 1875 wie folgt:

"... Der außerordentliche Aufschwung, dann das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer so großen und ruhmreichen Armee wie die Deutsche, aber auch die Entstehung eines wirklichen Deutschen Bundesreiches mit einem Kaiser, trug dazu bei, außer in Preußen und Sachsen nun auch im übrigen Deutschland, Bayern, Württemberg, Baden, Oldenburg, Mecklenburg, ja selbst in den neuen Reichslanden Elsaß und Lothringen, dergleichen Kriegervereine entstehen zu lassen, und in kurzer Zeit gewann die Sache nun eine allgemeine, sowohl materielle als nationale und dadurch auch eine politische Bedeutung, die jedenfalls mehr Aufmerksamkeit verdiente und auf sich zog, als sie bis dahin erregt hatte".

Diese Kriegervereine hatten auch eine wichtige soziale Funktion, die auch ehemalige Soldaten oder Soldatenwitwen unterstützten.

Versammlung von Mitgliedern von Kriegervereinen. Großformatiges Foto wohl nach 1918. Vermutlich Pressefoto.
Aufmarsch u. A. von Veteranen in historischen Uniformen. Originale Fotokarte aus dem Jahr 1925. Fotograf: Schlotfeldt/ Bergedorf.
Veteranen in historischen Kavallerieuniformen. Originale Fotokarte ohne Ort. Nach 1918.
Treffen ehemaliger Jäger. Originale Fotokarte: Fotograf: Otto Hönehopp/ Bonn. Deutlich nach 1918.
Kavallerie-Verein Bielefeld. Originale Fotokarte. Nach 1918.

Der Kampf gegen die Sozialdemokratie war ein wichtiger Grund gegen weitere Heeresvermehrungen, da man im Zuge der Aufstellung neuer Einheiten vermehrt auf städtische Arbeiter hätte zurückgreifen müssen. Man fürchtete den angeblich negativen Einfluss der Sozialdemokratie auf die Gesinnung der Soldaten. Dieser Konflikt beeinflusste das Verhältnis der Armee zur Gesellschaft bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges. Zwar wurde von Wilhelm II. das Sozialistengesetz nicht erneuert, aber die Armee sollte vermehrt die staatskritischen politischen Bewegungen beobachten. Dies eskalierte sogar bis hin zu vorbereitenden Maßnahmen für einen Bürgerkrieg  Damit erhielt die Armee zusätzlich eine problematische innenpolitische Rolle, die vom verantwortlichen militärischen Führungspersonal nicht  einhellig begrüßt wurde10. Interessanterweise scheint es selbst bei den sozialdemokratisch gesinnten Arbeitern keine grundsätzlich negative Bewertung der (eigenen) Dienstzeit beim Militär gegeben zu haben, dies wussten auch die sozialdemokratischen Politiker und hielten sich mit schlichter antimilitaristischer Propaganda zurück11. Im Einzelfall kam es zum Einsatz des Militärs bei inneren Unruhen, aber kluge und erfahrene Generale reagierten auch hier eher besonnen. So schreibt des kommandierende General des VII. Armeekorps (Münster), Heinrich Ludwig Wilhelm Emil von Albedyll (1824 - 1897) am 11.05.1889 nach Berlin: "In Berlin müssen sich durch das Geschrei der zum großen Teil elenden Zivilbehörden und der Industriellen Auffassungen zur Geltung gebracht haben, die in der Tat nur der Angst der Betreffenden, keineswegs aber der wirklichen Sachlage entsprechen. Wir schießen hier wirklich mit der Kanone nach dem Sperling, wenn der durch den Kriegsminister zugegangene Befehl wirklich ausgeführt werden sollte". Anlass waren Unruhen im Kohlenrevier12.

Vater und acht Söhne in sächsischen Uniformen verschiedener Waffengattungen und Einheiten. Originales großformatiges Foto. Um 1900.

Die Schattenseiten der besonderen Rolle des Militärs waren ein übersteigertes Selbstgefühl des Militärs, insbesondere eine ausgeprägte Arroganz vieler – auch bürgerlicher – Offiziere und eine fehlende Emanzipation  anderer gesellschaftlicher Gruppierungen. Die hässliche "Zabern-Affäre" (1913) war hier nur die Spitze des Eisberges, allerdings auch durch die besondere Situation des Reichslandes "Elass- Lothringen" begründet13. Der überaus harte Drill in der – preußischen – Armee ist bekannt, belegte Soldatenmisshandlungen sind aber nicht typisch für das deutsche Heer14. Die Militarisierung des deutschen Kaiserreiches passt aber in das Bild der Epoche vor dem 1. Weltkrieg, in allen Staaten waren ein übersteigertes Nationalgefühl, eine gewisse Kriegspsychose und in der Folge enorme Rüstungsanstrengungen zu beobachten. Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts und das beginnende 20. Jahrhundert waren  durch umwälzende wirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen und eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung geprägt, das Ende des dominanten politischen Europas und der scheinbar fest gefügten Klassengesellschaft stand unmittelbar vor der Tür.

Kaiserbesuch. Originale Fotokarte. Fotograf: Karl Schipper/ Wiesbaden.

Vgl. zum Thema allgemein:

Winfried Baumgart, Deutschland im Zeitalter des Imperialismus 1890 – 1914, Stuttgart 1982,

Volker Ullrich, Deutsches Kaiserreich, Frankfurt am Main 2006 und Michael Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870 – 1918, Düsseldorf 1984

sowie speziell:

Bernd Ulrich, Jakob Vogel und Benjamin Ziemann, Untertan in Uniform. Militär und Militarismus im Kaiserreich 1871 – 1914, Frankfurt am Main 2001.

Fußnoten:

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