Die Stellung des Militärs in der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs
Das Militär hatte im Kaiserreich eine herausragende gesellschaftliche Stellung inne, dessen Angelegenheiten sich weitgehend der politischen Kontrolle entzogen. Der deutsche Kaiser war oberster Kriegsherr des deutschen Heeres und Wilhelm II. (1859-1941) hatte diese Rolle im besonderen Maße verinnerlicht. Der durchaus gesellschaftskritische Schriftsteller Theodor Fontane hat sich einmal (1897) über diesen Monarchen hellsichtig wie folgt geäußert: „Er hat ein Million Soldaten und will auch hundert Panzerschiffe haben – er träumt (und ich will ihm diesen Traum hoch anrechnen) von einer Demütigung Englands. Deutschland soll obenan sein, in all und jedem. Das alles – ob es klug und ausführbar ist, lass ich dahingestellt sein – berührt mich sympathisch und ich wollte ihm auf seinem Turmseilwege willig folgen, wenn ich sähe, dass er … die richtige Balancierstange in Händen hätte. Das hat er aber nicht. Er will, wenn nicht das Unmögliche, so doch Höchstgefährliche, mit falscher Ausrüstung, mit unzureichenden Mitteln. Er glaubt das Neue mit ganz Altem besorgen zu können, er will Modernes aufrichten mit Rumpelkammerwaffen. Er sorgt für neuen Most und weil er den alten Schläuchen nicht mehr trat, umwickelt er eben diese alten Schläuche mit immer dickerem Bindfaden und denkt: nun wird es halten. Es wird aber nicht halten … Was der Kaiser mutmaßlich vorhat, ist mit „Waffen“ überhaupt nicht zu leisten; alle militärischen Anstrengungen kommen mir vor, als ob man anno 1400 alle Kraft darauf gerichtet hätte, die Ritterrüstung kugelsicher zu machen – statt dessen kam man aber schließlich auf den einzig richtigen Ausweg, die Rüstung ganz fortzuwerfen“1.
Kaiser Wilhelm II. betrachtete das Heer als ureigenstes Instrument des Monarchen und lehnte jede Einmischung des Reichskanzlers und des Reichstages in seinen militärischen Machtbereich vehement ab. Lediglich das Budgetrecht des Reichstages bedeutete hier einen Einschnitt und führte regelmäßig zu innenpolitischen Turbulenzen2. Unabhängig hiervon war das Militär bei der Bevölkerung des deutschen Kaiserreiches überaus populär. Spätestens seit den siegreichen Einigungskriegen und der Schaffung des deutschen Kaiserreiches im Jahre 1871 identifizierte sich auch das deutsche Bürgertum mit der bewaffneten Macht im Staat. Dies war natürlich auch in dem enormen wirtschaftlichen Aufschwung des wilhelminischen Deutschlands begründet.
Der Adel besetzte im kaiserlichen Deutschland als gesellschaftliche Elite immer noch wichtige Funktionen. Nach dem Ende der Befreiungskriege waren von 7505 Offizieren der preußischen Armee insgesamt 4138 Adlige (= 55 %). Im Jahre 1847 waren von 9434 Offizieren 7264 adlig (= 77 %). Aber der zahlenmäßige Anteil des Adels sank angesichts der wachsenden Zahl der Offiziere im Zuge der Heeresvermehrungen zwangsläufig. Vor der Reorganisation und dem Ausbau des Heeres vor 1860 waren noch 65 % des Offizierkorps adlig, 1895 waren es noch 44,1 %, 1898 waren es noch 40 %, 1911 waren es noch 33 % und im Jahre 1913 war der Anteil bürgerlicher Offiziere bereits auf 70 % gestiegen3. In diesem Jahr waren von den Rängen von den Obersten aufwärts 52 % adlig und 48 % bürgerlich. Der Adel war aber vor allem bei der Kavallerie noch immer stark vertreten. In dieser vornehmen Waffengattung waren im Jahre 1913 87 % der Stabsoffiziere adlig, während es bei den Pionieren und Verkehrstruppen im gleichen Zeitpunkt nur 6 % waren. Bemerkenswert ist, dass das gesamte Offizierkorps der Marine nur einen adligen Anteil von 13 % hatte4. Unter Wilhelm II. kapselte sich der Adel in einigen Garde- und Provinzialregimentern ab, es gab aber Versuche von offizieller Seite, dieser Entwicklung entgegen zu treten. In Sachsen war im Jahre 1908 das Verhältnis zwischen adligen und bürgerlichen Offizieren wie 571 zu 3284, in der bayerischen Armee war das Verhältnis im Jahre 1893 wie 1122 zu 7390.
Der aus dem amerikanischen Großbürgertum stammende und mit Bismarck befreundete John Lothrop Motley, ab 1841 Gesandtschaftssekretär in Petersburg, äußerte sich bereits am 04.11.1833 kritisch über die Rolle des Adels: " Diejenigen, welche so glücklich sind, die drei magischen Buchstaben VON vor ihrem Namen zu haben, gehören zum Adel und sind demzufolge höchst aristokratisch. Ohne diese drei mögen die Anderen sämtliche Zeichen des Alphabets in jeder möglichen Zusammensetzung haben, sie bleiben dennoch Plebejer"5. Ein zeitgenössischer deutscher Beobachter schrieb einige Jahre später: "Der Gardelieutenant wird geboren als echtes Vollblut von echtem Vollblut und fühlt sich nun von vornherein als ein Wesen höherer Art, den Bauern, den Tagelöhnern, dem bürgerlichen Volk gegenüber. Der junge Von braucht eigentlich nichts zu werden, er kann die Erlernung eines Geschäfts ... dem Bürgertum überlassen, denn ein Gardelieutenant, wie sein soll, muß reich sein .... Und wenn das Bärtchen nun flaumt, wenn die Epauletten zum ersten Mal auf seinen Schultern prangen, wenn der Federbusch zum ersten Male auf seinem Haupte winkt, wenn die Soldaten in allen Ecken und Winkeln präsentieren, wie sollte er da nicht fühlen, das er berufen ist, ein Wesen von höherer Art in dieser sublunarischen Welt darzustellen? Wie sollte er da nicht eben alles ignorieren und verachten, was nicht von Adel, was nicht auch Gardelieutenant oder sonst mit einer Charge in der militärischen Hierarchie bekleidet ist? Es ist nur zu natürlich. Ein Gardelieutenant glaubt schon nicht mehr mit einem Lieutenant von der Linie umgehen zu dürfen. Er meint, dass dieser unter ihm stehe"6.
Zwar dominierte der Adel in den maßgeblichen Funktionen nach wie vor das Offizierkorps7, dass Bürgertum konnte jedoch seine Minderwertigkeitskomplexe über den Eintritt in das Reserveoffizierkorps überwinden und in der Folge imitierte es im besonderen Maße wirkliche und vermeintliche Charakteristika des Adels8. Militärische Verhaltensweisen wurden insgesamt Bestandteil des Alltags, der bunte Rock war in der Stadt und auf dem Lande angesehen. Der beinahe uneingeschränkte Respekt des Bürgers vor dem Militär wird besonders in dem Skandal um den "Hauptmann von Köpenick" (1906) deutlich9.
Das Kaiserhaus und das Militär verkörperten "Glanz und Gloria" des vereinigten Deutschlands, was in prächtigen Neujahrsparaden, Kaiserparaden und weit verbreiteten Festlichkeiten z. B. anlässlich des Kaisergeburtstages, der Einweihung von vaterländischen Denkmälern und sonstigen Jubiläen überaus sichtbar wurde.
Im Rahmen seiner aktiven Dienstzeit und als Reservist wurde der Einzelne Teil der "schimmernden Wehr", die Uniform hob das Selbstgefühl nicht nur der unteren und mittleren Bevölkerungsschichten.
Traditionspflege wurde im Kaiserreich hochgehalten und bewusst als vaterländische Stimulans den militärkritischen Tendenzen der bereits erwähnten immer stärker werdenden Sozialdemokratie entgegen gehalten. Diese Funktion erfüllte insbesondere das deutsche Kriegsvereinswesen, welches allein in Preußen im Jahre 1903 etwa 13000 Vereine mit zusammen 1 140 000 Mitgliedern zählte. Hier wurde die patriotische Überlieferung allgemein und mit Blick auf die jeweiligen Einheiten bewahrt und damit ganz im Sinne der Monarchie gesellschaftlich stabilisierend gewirkt.
Der Kampf gegen die Sozialdemokratie war ein wichtiger Grund gegen weitere Heeresvermehrungen, da man im Zuge der Aufstellung neuer Einheiten vermehrt auf städtische Arbeiter hätte zurückgreifen müssen. Man fürchtete den angeblich negativen Einfluss der Sozialdemokratie auf die Gesinnung der Soldaten. Dieser Konflikt beeinflusste das Verhältnis der Armee zur Gesellschaft bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges. Zwar wurde von Wilhelm II. das Sozialistengesetz nicht erneuert, aber die Armee sollte vermehrt die staatskritischen politischen Bewegungen beobachten. Dies eskalierte sogar bis hin zu vorbereitenden Maßnahmen für einen Bürgerkrieg Damit erhielt die Armee zusätzlich eine problematische innenpolitische Rolle, die vom verantwortlichen militärischen Führungspersonal nicht einhellig begrüßt wurde10. Interessanterweise scheint es selbst bei den sozialdemokratisch gesinnten Arbeitern keine grundsätzlich negative Bewertung der (eigenen) Dienstzeit beim Militär gegeben zu haben, dies wussten auch die sozialdemokratischen Politiker und hielten sich mit schlichter antimilitaristischer Propaganda zurück11. Im Einzelfall kam es zum Einsatz des Militärs bei inneren Unruhen, aber kluge und erfahrene Generale reagierten auch hier eher besonnen. So schreibt des kommandierende General des VII. Armeekorps (Münster), Heinrich Ludwig Wilhelm Emil von Albedyll (1824 - 1897) am 11.05.1889 nach Berlin: "In Berlin müssen sich durch das Geschrei der zum großen Teil elenden Zivilbehörden und der Industriellen Auffassungen zur Geltung gebracht haben, die in der Tat nur der Angst der Betreffenden, keineswegs aber der wirklichen Sachlage entsprechen. Wir schießen hier wirklich mit der Kanone nach dem Sperling, wenn der durch den Kriegsminister zugegangene Befehl wirklich ausgeführt werden sollte". Anlass waren Unruhen im Kohlenrevier12.
Die Schattenseiten der besonderen Rolle des Militärs waren ein übersteigertes Selbstgefühl des Militärs, insbesondere eine ausgeprägte Arroganz vieler – auch bürgerlicher – Offiziere und eine fehlende Emanzipation anderer gesellschaftlicher Gruppierungen. Die hässliche "Zabern-Affäre" (1913) war hier nur die Spitze des Eisberges, allerdings auch durch die besondere Situation des Reichslandes "Elass- Lothringen" begründet13. Der überaus harte Drill in der – preußischen – Armee ist bekannt, belegte Soldatenmisshandlungen sind aber nicht typisch für das deutsche Heer14. Die Militarisierung des deutschen Kaiserreiches passt aber in das Bild der Epoche vor dem 1. Weltkrieg, in allen Staaten waren ein übersteigertes Nationalgefühl, eine gewisse Kriegspsychose und in der Folge enorme Rüstungsanstrengungen zu beobachten. Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts und das beginnende 20. Jahrhundert waren durch umwälzende wirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen und eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung geprägt, das Ende des dominanten politischen Europas und der scheinbar fest gefügten Klassengesellschaft stand unmittelbar vor der Tür.
Vgl. zum Thema allgemein:
Winfried Baumgart, Deutschland im Zeitalter des Imperialismus 1890 – 1914, Stuttgart 1982,
Volker Ullrich, Deutsches Kaiserreich, Frankfurt am Main 2006 und Michael Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870 – 1918, Düsseldorf 1984
sowie speziell:
Bernd Ulrich, Jakob Vogel und Benjamin Ziemann, Untertan in Uniform. Militär und Militarismus im Kaiserreich 1871 – 1914, Frankfurt am Main 2001.
Fußnoten:
- 1. Zitiert nach: Friedrich Hartau, Wilhelm II. Hamburg 1992, S. 144.
- 2. Der Reichskanzler hing zwar vom Vertrauen des Kaisers ab, konnte aber ohne Mehrheit im Reichstag keine Gesetze oder den Haushalt beschließen, insoweit kam dem Parlament die Funktion einer echten Legislative zu.
- 3. Detlef Bald, Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert. München 1982, S. 89 und die Tabelle Nr. 9 auf S. 90.
- 4. Zahlen nach: Baumgart, a.a.O., S. 189 ff.
- 5. Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, S. 126.
- 6. Zitiert nach. Francos L. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt am Main 19888, S. 104.
- 7. Zu einer kritischen Reichstagsrede über die Bevorzugung des Adels vgl. Karl-Volker Neugebauer (Hrsg.), Grundzüge der deutschen Militärgeschichte. Band 2: Arbeits- und Quellenbuch, S. 179 ff.
- 8. Vgl. hierzu: H. John, Das Reserveoffizierkorps im deutschen Kaiserreich 1890 – 1914, Frankfurt am Main 1981.
- 9. Vgl. zu einer differenzierten Bewertung dieser Episode: Bernd Ulrich, Jakob Vogel und Benjamin Ziemann, Untertan in Uniform. a. a. O. , S. 16 ff.
- 10. Vgl. Wilhelm Deist, Die Armee in Staat und Gesellschaft 1890 – 1914, in: Michael Stürmer (Hrg.), Das kaiserliche Deutschland. a. a. O. , S. 316 ff.
- 11. Entsprechende Belege finden sich in: Bernd Ulrich, Jakob Vogel und Benjamin Ziemann (Hrgb.), Untertan in Uniform. Militär und Militarismus im Kaiserreich 1871 – 1914. Frankfurt am Main 2001, S. 76 ff.
- 12. Priesdorff, v., Soldatisches Führertum, Band X., S. 477.
- 13. Siehe hierzu die Erklärung des Reichskanzlers in: Karl-Volker Neugebauer (Hrsg.), Grundzüge der deutschen Militärgeschichte. Band 2: Arbeits- und Quellenbuch, S. 230 ff.
- 14. Vgl. hierzu die Ordre des preußischen Kriegsministers v. Falkenhayn gegen die zu milde Bestrafung von Soldatenmisshandlungen vom 28.05.1914 an sämtliche Königlichen Generalkommandos, das Königliche Gouvernement Berlin und das kaiserliche Gouvernement in Ulm in: Demeter, a.a.O., S. 296/297. Ein Problem war auch die Ausbeutung jüngerer durch ältere Soldaten. Hierauf wurde auch in Handbüchern für Offiziere warnend hingewiesen. Vgl. hierzu Bernd Ulrich, Jakob Vogel und Benjamin Ziemann (Hrg.), Untertan in Uniform, a.a.O., S. 70 ff.